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Der Klang der Zeit - Richard Powers

Das älteste Lied aller Zeiten


"Warum sollten sie die Melodie nicht gemeinsam haben? Keine Rasse, keine Gesellschaft war so stark, dass sie ein Stück Musik ganz für sich beanspruchen konnte."

1939 Washington DC: Bei einem Freiluftkonzert der afroamerikanischen Sängerin Marian Anderson vor dem Lincoln Memorial treffen und verlieben sie sich. Delia Daley, gut situierte Tochter eines Arztes aus Philadelphia und David Strom, jüdischer Flüchtling aus Deutschland. Doch sie haben ein Problem. Sie ist schwarz und er ist weiß. Die Ehe der Beiden; unerhört und in den meisten der US-amerikanischen Staaten verboten.

"Sie hat die Melodie schon ihr ganzes Leben lang gekannt. Aber erst seit sie diesen Mann geheiratet hat, hört Delia Daley das Lied menschlichen Hasses aus voller Kehle… Die Zeit zieht gegenüber der Geschichte stets den Kürzeren. Jede Wunde, je erlitten, ist nur verschorft und schwärt unter der Oberfläche weiter. Ein kindlicher, noch nicht versklavter Teil ihres Wesens glaubte tatsächlich, an ihrer Ehe könne die Welt genesen."

Die drei Kinder der Beiden wachsen in eine schwierige Welt hinein. Die Haut zu dunkel, um von der weißen Klasse als ein Teil davon anerkannt zu werden, aber zu hell, um in die scheinbar verschworene Parallelgesellschaft der schwarzen Amerikaner hineinzupassen, macht es den dreien schwer, eine Zugehörigkeit zu entwickeln. Jeder von Ihnen bleibt ein Suchender.

 

Doch Delia und David haben ihre ganz eigene Idee von der Zukunft und der Erziehung ihrer Kinder. Eine Idee, an der die gesamte Familie zu zerbrechen droht.

"Sie (Delia Daley) kann ihnen ein Lied beibringen, das stärker ist als Zugehörigkeit. Mächtiger als Identität. Ein einzigartiges Lied. Ein Ich fester als jede Rüstung. Sie kann ihnen beibringen, dass sie mit der Selbstverständlichkeit singen, mit der sie atmen, die Lieder all ihrer Vorfahren."

 

"Sie kennen den Schlussakkord. Sie wissen, eines Tages wird die Welt hören, wie die Kadenz klingen muss."

In allen Zellen dieser Familie steckt Musik. Doch wem gehört diese Musik? Gibt weiße Musik? Gibt es schwarze Musik? Und was kann Musik bewirken?

 

Auch in jeder Seite des Buches „Der Klang der Zeit“ des Autors Richard Powers steckt Musik. Jahrhunderte alte Musik, neue ernste Musik, Rock`n Roll, Pop, Gospel, Rap.

 

Der Autor schildert die Geschichte der Familie Strom bis in das Jahr 1995 hinein, wobei er viele historische Ereignisse in die fiktive Geschichte hineinwebt. Man taucht als Leser ein in die, vor allem schwarze, Lebenswelt des 20. Jahrhunderts in den USA geprägt von Rassismus, Unterdrückung und gewaltsamen Aufständen.

 

Und man tauscht ein in die Musik dieser und vergangener Zeiten, die sich so schnell zu entwickeln scheint, dass man kaum folgen kann, ohne den Anschluss zu verlieren.

 

Für mich als Musikliebhaberin war dies Buch eine Fundgrube an Musikstücken, die ich schon lange nicht mehr gehört und wieder neu schätzen gelernt habe.

 

Kann eine „Rasse“ eine bestimmte Musik für sich beanspruchen? Vor allem diese Frage hat mich als hellhäutige Interpretin amerikanischer Gospelmusik besonders beschäftigt. Ich bin bei der Beantwortung dieser Frage ganz bei Delia und David und bin schier daran verzweifelt, wie sehr sie Ihre Idee der Zukunft gegen alle Richtungen verteidigen müssen.

 

Das Buch ist eine Herausforderung. Die Kapitel sind ellenlang, die Seiten eng beschrieben und die Sprache oft verschnörkelt und in musikalische Bilder verpackt.

 

Es macht unheimlich Spaß, in die im Buch erwähnten Musikstücke parallel zum Lesen hineinzuhören. In der heutigen Zeit der Streamingdienste kann ich dies jedem Leser unbedingt empfehlen.

 

Für Musikliebhaber und Menschen, die am Thema Rassismus in den USA interessiert sind, ist dieses Buch ein unbedingtes Muss.

"Und so spaltete sich die Gesellschaft in zwei Gruppen, nicht in Weiße und Schwarze, nicht in Einheimische und Ausländer, nicht einmal in Frauen und Männer, sondern in Sänger und Baumeister, und keiner hätte sagen können, welche von beiden Künsten die gefährlichere war und welche auf lange Sicht eher eine Chance hatte, die Wunden der Welt zu heilen."




Titel: Der Klang der Zeit

Autor: Richard Powers

Originaltitel: The Time of Our Singing

Aus dem Amerikanischen übersetzt von: Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié

Erschienen im Fischer Verlag, 2005

ISBN: 978-3-596-15971-0

Das Urheberrecht und das Copyright an dem Buchcover liegen beim Fischer Verlag.

Bei den hervorgehobenen Textpassagen handelt es sich um Zitate aus dem besprochenen Werk.

Spotify Playlist

1. Bist du bei mir, BWV 508 - Johann Sebastian Bach

2. Ave Maria, D. 839 - Franz Schubert

3. Yaller - Cab Calloway

4. A Child of Our Time - Michael Tippett

5. Time Stands Still - John Dowland

6. Erlkönig, D.328 - Franz Schubert

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