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UND AUF EINMAL DIESE STILLE: Oral History des 11. September - Garrett M. Graff

Werbung, Rezensionsexemplar

Wo warst du, als die Welt aufhörte sich zu drehen?


Where Were You (When the World Stopped Turning), fragte der US-amerikanische Countrysänger Alan Jackson in seinem Ende 2001 erschienenen gleichnamigen Song. Es war ein strahlend blauer Tag im September. Wie der Autor des vorliegenden Buches bereits in der Vorbemerkung feststellt, geht es, sobald es um den 11. September 2001 geht, immer um diese eine Frage. Was habe ich gemacht, als es passierte? Ich selbst erinnere mich gut, obwohl es bald 19 Jahre her ist.

 

Ende der 90er Jahre war ich ein Teenager und New York City mein Sehnsuchtsort, die Zwillingstürme des World Trade Centers für mich der Inbegriff architektonischer Eleganz. Irgendwann, so schwor ich mir, werde ich mal von dort oben auf die Stadt meiner Träume schauen. 1999 hielt ich für ein Projekt im Kunstunterricht die Skyline New York Citys auf einem weißen Blatt Papier fest. Die Zeichnung habe ich immer noch.

Auch das vorliegende Werk von Garrett M. Graff behandelt die Frage nach dem „Wo warst du?“. Es enthält rund 500 Schilderungen dieses einen Tages, sowie dem Tag davor und denen, die folgten. Nur klingen diese Erinnerungen ganz anders, als das, was man als Mitteleuropäer Mitte 30 sonst so zu hören bekommt.

 

Die mündlichen Schilderungen, über fast zwei Jahrzehnte gesammelt und transkribiert, vom Autor für dieses Buch zusammengetragen und in einen zeitlichen Zusammenhang gebracht, stammen von unterschiedlichsten Zeugen, angefangen von Angestellten in den „Twin Towers“, Feuerwehrleuten, Polizistinnen, hochgestellten Millitärs im Pentagon, dem Stabschef des Weißen Hauses, dem damaligen Vizepräsidenten Dick Cheney, bis zum Flughafenmitarbeiter, der hilfsbereit fünf Männern half, ihren Flug rechtzeitig zu erreichen. Männer, die eine Stunde und 15 Minuten später das Flugzeug mit 57 weiteren Menschen an Bord in das Pentagon steuerten, dem Hauptsitz des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums in Arlington (Virginia), und damit den Glauben der USA an die eigene Unverwundbarkeit in ihren Grundfesten erschütterten.

 

Es liest sich zeitweilig wie ein Bericht vom Weltuntergang, denn die Beteiligten von damals konnten nicht wissen, was der Leser dieses Buches heute weiß. Dass es an diesem Tag insgesamt vier entführte Flugzeuge gab. Für viele Betroffene vor Ort war, als sie begriffen, dass keine Unfälle, sondern Terroranschläge für die Feuer und Zerstörungen verantwortlich waren, der Himmel über den Vereinigten Staaten von Amerika voller Bomben.

 

 

 

 

"Auf der Straße war es wie am Strand. Man sank mit den Füßen ein, und jeder Schritt wirbelte Rauchwölkchen auf. Die Leute - wir hatten alle dieselbe Farbe."

Richard Eichen - Berater, Pass Consulting Group, Nordturm


Ich würde gerne sagen, dass ich dieses Buch jedem Lesenden empfehle, aber das wäre vielleicht etwas leichtsinnig, denn vieles, was man hier liest, ist verstörend. Schilderungen der Anrufe von Eingeschlossenen und Passagieren der entführten Flugzeuge mit Angehörigen, Freunden oder Flughafenmitarbeitern oder die Transkription der Blackbox-Aufzeichnung aus dem Cockpit des entführten Fluges 93, den die Entführer über einem Feld bei Shanksville, Pennsylvania zum Absturz brachten, während Crew und Passagiere versuchten, die Kontrolle über die Maschine zurückzuerlangen, treiben dem Lesenden die Tränen in die Augen. Als ich das kurze Kapitel mit der schlichten Überschrift „Springen“ beendet hatte, musste ich das Buch für eine Weile weglegen.

 

Der Lesende, der in diesem Buch Erkenntnisse zu den Hintergründen der Anschläge erwartet, wird enttäuscht werden, jedoch gibt es hier ganz interessante Einblicke in die innersten Machtstrukturen der USA. Was passierte währenddessen im Weißen Haus, im Kapitol und der Air Force One? Wie reagierten Präsident Bush und Verteidigungsminister Rumsfeld? Menschen die nah dran waren berichten hier. Auch über ihre eigenen Ängste und Gedanken. Ungefiltert und ungeschönt. Der multiperspektivische Ansatz ist fesselnd und weniger verwirrend als anfangs befürchtet.

 

Neben all dem Horror wirken bei mir besonders die Geschichten nach, die einige Lesende sicher als Wunder bezeichnen würden. So liest man von Pasquale Buzzelli, der sich während des Einsturzes des Nordturms in dessen Treppenhaus im 21. Stock befand und überlebte, Genelle Guzman, die 27 Stunden lang verschüttet unter den Trümmern lag, bevor ein paar Feuerwehrmänner ausgerechnet diese Stelle in dem riesigen glimmenden Schutthaufen für ihre Suche auswählten und Joseph Lott, der nur schnell sein Hemd bügeln wollte und deshalb noch nicht im Nordturm war, als das Flugzeug hineinflog.

 

Aus heutiger Sicht wundert man sich darüber, was die Menschen damals taten und dachten, wie sie mit dem Erlebten umgingen. Neunzehn Jahre später ist die Welt in der Tat eine andere und ich brenne darauf, mich mit einem Leser dieses Buches auszutauschen, der damals noch zu jung oder noch gar nicht auf der Welt war und diesen Tag damit noch nicht bewusst miterlebt hat.

 

Im Oktober 2015, vier Monate nach der Eröffnung der Aussichtsetage, stand ich im 100. Stockwerk des One World Trade Centers. Aus fast 400 Metern Höhe blinkte ich auf New York City, unter mir „Ground Zero“ mit den zwei riesigen Brunnen, dort wo einst WTC1 und WTC2 standen und konnte es noch immer nicht fassen, wozu Menschen im Stande waren, im Guten wie im Schlechten.

 

Für mich war es wichtig, dieses Buch zu lesen, da ich es seit fast 19 Jahren vermieden habe, mich mit diesem Ereignis auseinander zu setzen. Es ist furchtbar zu wissen, dass solche Anschläge auch heute immer wieder passieren können. Werden wir dann besser darauf vorbereitet sein? Und warum tuen Menschen anderen Menschen sowas überhaupt an? Ich gehöre zu einer, ich möchte sagen, eher naiven Generation. In Friedenszeiten geboren ohne lebende Vorfahren, die vom Krieg hätten erzählen können, in Liebe und behüteten Verhältnissen aufgewachsen fühlte ich mich geschützt vor jeglicher Unbill. Der 11. September hat mir ein Stück dieser Naivität genommen. Auch einen ganzen Ozean entfernt, denn die Welt ist kleiner geworden.

 

Es fühlt sich komisch an, in den einschlägigen Bewertungsportalen, für das vorliegende Buch fünf Herzen oder Sterne zu verteilen, denn irgendwie passt das Bild der Herzchen und Sternchen nicht zu diesem Buch. Doch natürlich erhält es vom mir die beste Bewertung, denn UND AUF EINMAL DIESE STILLE machte mit mir, was ein gutes Buch mit dem Lesenden machen sollte.

 

Es fesselte, informierte, berührte mich. Die rund 500 Menschen, die im Buch zu Wort kommen, haben zu berichten, was niemals in Vergessenheit geraten sollte. Sie stehen stellvertretend für Tausende von Seelen, die von den Ereignissen dieses Tages im September 2001 berührt wurden und werden, damals und heute.




Titel: UND AUF EINMAL DIESE STILLE Die Oral History des 11. September

Autor: Garrett M. Graff

Originaltitel: The Only Plane in the Sky

Aus dem Amerikanischen von Philipp Albers und Hannes Meyer

erschienen im Suhrkamp Verlag

ISBN: 978-3-518-47090-9


Das Urheberrecht und das Copyright an dem Buchcover liegt beim Suhrkamp Verlag. Bei den hervorgehobenen Textpassagen handelt es sich um Zitate aus dem besprochenen Werk.

Spotify Playlist

1. Where Were You (When the World Stopped Turning) - Alan Jackson

2. Only Time - Enya

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